Mary Patricia Fennessy lebt mir ihrer Tochter Julia in Commonwealth in South Boston. Die beiden werden dort einfach nur Mary Pat und Jules genannt, und finden sich in der Gesellschaft aus größtenteils irischer Abstammung irgendwie zurecht. Sie haben nicht viel Geld, aber zum Überleben reicht es.
Aktuell schwelt ein Konflikt zwischen der weißen und der schwarzen Bevölkerung da per richterlichem Dekret verfügt wurde, dass zukünftig mehr schwarze Schüler auf eine weiße Schule und umgekehrt gehen müssen. Diese Maßnahme soll ein probates Mittel gegen die Rassentrennung in den ärmeren Vierteln Bostons wirken. Doch weder die schwarze noch die weiße Bevölkerung heißt das Vorgehen gut und ein heftiger Konflikt ist vorprogrammiert.
Als dann eines Tages Jules abends nicht mehr nach Hause kommt, bricht für Mary Pat, die bereits ihren ersten Mann und ihren Sohn verloren hat, eine Welt zusammen. Verzweifelt macht sie sich auf die Suche nach ihrer Tochter.
„»Ich meine, hast du nicht manchmal das Gefühl, etwas sollte so und so sein, aber es ist anders? Und du weißt nicht, wie es sein soll, weil du nie etwas anderes gekannt hast als das, was du siehst? Und was du siehst, na ja« –, sie winkt zur Old Colony Avenue hin, »ist das hier?« Sie schaut ihre Mutter an und weicht ihr auf dem unebenen Boden etwas aus, damit sie nicht zusammenstoßen. »Man weiß es aber.« – »Was weiß man?« – »Dass wir dafür nicht gemacht sind.« Jules tippt sich an die Mulde zwischen ihren Brüsten. »Hier drin.«“ (S. 26)
Den neuen Roman von Dennis Lehane habe ich mir vorgenommen, weil mich sein erster Fall von Kenzie und Gennaro begeistert hat. Auch in „Sekunden der Gnade“ spielt die Handlung in der Heimatregion des Autors nahe Dorchester im Süden Bostons. Banden und Drogen beherrschen Stadtviertel und der Konflikt zwischen Schwarz und Weiß schwelt.
Dennis Lehane nimmt kein Blatt vor den Mund, wenn es um eine authentische Sprache und eine authentische Darstellung der Herausforderungen dieser Zeit geht. Er verwendet Schimpfwörter, hin und wieder werden Zähne ausgeschlagen die vermeintlichen Unterschiede der einzelnen Gesellschaftsschichten werden sehr hart und emotionslos beschrieben. Was auf der einen Seite die gesamte Geschichte lebendig erscheinen lässt, macht einem als Leser durchaus auch zu schaffen. Wer sich mit dem Rassenkonflikt aus der Zeit um 1975 beschäftigen möchte, findet hier aber eine spannende, teilweise autobiographische und sprachlich schön geschriebene Geschichte.
Mir persönlich hat insbesondere der Schluss der Handlung nicht gefallen. Er skizziert ein wahnsinnig düsteres Bild und hat mich emotional runtergezogen. Nicht meine bevorzugte Art ein Buch zur Seite zu legen. Überrascht war ich, wie sehr mich die letzten Zeilen dieses Romans berührt haben. Sie haben mir deutlich vor Augen geführt, dass auf dieser Welt jeder sein Päckchen zu tragen hat. Diese Päckchen sind aber sehr unterschiedlich groß und ich kann mich glücklich schätzen, dass meine eigenen eher klein sind.